SONDERDRUCK AUS: KneippKalender 1952
Eßt mehr Vollkornbrot!
Von Dr. K. W i n d s t o s s e r, Bad Wiessee.
Obwohl die Brotfrage in der Vor und Nachkriegszeit mit allem Für und Wider bis zum Uberdruß erörtert wurde, tauchen leider immer wieder. Fehlmeinungen auf, die um so verhängnisvoller sind, wenn sie von Fachleuten oder Ernährungswissensschaftlein stammen. Hinzuzufügen ist, daß der von der Vollkornbrotaktion gewonnene Boden infolge der qualitativen und quantitativen Mängel an Korn und Mehl während der Nachkriegsjahre großenteils wieder verloren ging. Ein ausgehungertes Volk will jedes auch nur im entferntesten an eine vermeintliche „Entbehrung’ oder „Vereinfachung“ erinnernde Nahrungsmittel aus Küche und Keller verbannt wissen. So sonderbar der Kontrast auch ist, es scheint zwischen Not und Luxus in unserer Zeit keinen goldenen Mittelweg mehr zu geben.
Bis vor etwa 100 Jahren kannte man auf der ganzen Welt noch keine Brot oder Mehlfrage. Der weitaus größte Teil der Getreideernte wurde zu Vollkornmehl vermahlen und als solches verbacken oder verkocht. Seit Urzeiten und durch Jahrtausende hindurch wurde das Korn voll vermahlen zu Brot und Brei. Nur ein ganz kleiner Teil wurde meist von der Hausfrau selbst gesiebt und „gebeutelt“, d. h. seiner Schalenbestandtelle beraubt und zu Feingebäck verarbeitet. Eine nennenswerte Verschiebung zugunsten des weißen Mehles kam erst zustande auf Grund der Verstädterung, der Industrialisierung und Abkehr von naturgemäßer, schlichter Lebensweise zugunsten einer Verfeinerung auf allen Gebieten. Im Mehl mußte ein haltbares, als Handelsware geeignetes Erzeugnis geschaffen werden. Dazu war es notwendig, den Keim, dessen Fett leicht ranzig wird, vom Korn „abzuspitzen“ und das Korn zu schälen, um den unverderblichen, stärkehaltigen Kein möglichst rein zu gewinnen. Auf dieser Trennung des Korns in Feinmehl und Kleie baute sich dann die Kunstmühlenindustrie auf, die ihrerseits alles tat, mit Suggestion auf Geschmack und öffentliche
Meinung einzuwirken. Diese Entwicklung wurde begünstigt durch die damalige falsche Einstellung der Ernährungsphysiologen zur Brotfrage. So wurde das Vollkornbrot mit fortschreitender Verstädterung mehr und mehr durch Feinmehlprodukte verdrängt. In den letzten Vorkriegsjahren wurden etwa 90 % der gesamten Ernte zu Feinmehl verarbeitet, nur knapp 10 % zu Vollkornmehl und Vollkornbrot. So und nicht anders entstand die Brotfrage. Zugleich sahen Ärzte und Ernährungsphysiologen manche Krankheiten der Zähne und Verdauungsorgane anwachsen, deren Bedingtheit durch die Abkehr vom Vollkornverzehr neben den Ernährungsunsitten sich immer deutlicher erwies. Korn ist das vielseitigste und wertvollste Nahrungsmittel der Natur überhaupt. Es deckt auch heute einen großen Teil des menschlichen Gesamtnahrungsbedarfes. Das Korn besteht aus Eiweiß und Mineralsalzen, bes. Kalk, Kieselsäure und Mangan; aus Samenhaut (hauptsächlich Zellulose und Farbstoff); aus der Aleuronschicht mit vollwertigem Eiweiß; aus dem Mehlkörper, welcher Stärke und für die menschliche Ernährung nicht vollwertiges Eiweiß enthält, und aus dem besonders wichtigen Keimling, der hochwertiges Eiweiß, 90 % der Vitamine des Gesamtkorns, Fette, Lipoide, Enzyme und Mineralstoffe enthält. Beim Spitzen und Schälenwerden also die wertvollsten Bestandteile des Korns entfernt (Kleie), die dann als hochwertiges Viehfutter dienen. Das bedeutet für die unmittelbare menschliche Ernährung einen Verlust an wertvollem Eiweiß. Es bedeutet weiterhin einen Verlust an unersetzlichen Vitaminen, an Mineralstoffen, Zellulose, Pektinen und Geschmackstoffen, ein Verlust, von dem nur ein sehr bescheidener Teil auf dem Umweg über Fleisch und tierisches Fett dem, Menschen wieder zugute kommt. Gegen das hohe Ausmahlen des Getreides zu 85 % und mehr besteht in weiten Kreisen von den „Kriegsbroten“ her eine starke Abneigung. Das Kriegsbrot (insbesondere das der Jahre 19161920) war aber gar kein reines Getreidebrot, denn es enthielt elf Zusätze verschiedener Art (Kartoffeln, Bohnen, Hafer, Gerste, Lupinen, Kohlrüben usw.), die bei der im Kriege obendrein verkürzten Backzeit
das Backen erschwerten. Dadurch wurde dieses Brot meist stark wasserhaltig, schmeckte schlecht und verursachte Magenbeschwerden. Als schlechtes Beispiel sollte solches Brot gar nicht erst herangezogen werden. Brot aus feinst vermahlenem Vollkorn, richtig vorbereitet, richtig geführt und gründlich durchgebacken, ist die beste, billigste und vollkommenste Quelle aller unserer Nährstoffe. Es ist gleichzeitig Heilnahrung wie Gesundkost und wird gut gekaut selbst vom schwächlichsten Magen anstandslos vertragen. Der Mensch verdaut Kleie genau so gut wie das Schwein und fast ebenso gut wie der Wiederkäuer. H i n d h e d e, der dänische Ernährungsforscher, hat dies als erster vor Jahrzehnten nachgewiesen, und verschiedene Nachprüfer haben es seither bestätigt. Anderen gegenteiligen
Behauptungen lagen falsche Versuchs und Prüfungsanordnungen zugrunde. Gute Kaufunktion und normale Bakterienflora des Darmes sind allerdings die Voraussetzung des Vollkornes. Im übrigen versicherten mir Fachleute, daß es möglich sei, die Kleiebestandteile des Mehls isoliert besonders aufzuschließen und dann dem Brotteig wieder zuzusetzen. Auch ist es keineswegs erforderlich, Vollkornbrot ausschließlich aus Roggen herzustellen. Beimengungen von WeizenVollmehl machen Roggenbrot noch bekömmlicher und wohlschmeckender. Es gibt längst wieder Weizen genug für diesen Zweck, und selbst eine geringe Verteuerung des Brotes durch diese Maßnahme ist angesichts der damit zu erzielenden Konsumsteigerung in Kauf zu nehmen. Auch gegen reines Weizenbrot ist gesundheitlich nichts einzuwenden, wenn es nur den genannten Anforderungen hinsichtlich der Ausmahlung entspricht (Grahambrot).
Zusammenfassend läßt sich behaupten:
1. Vollkornbrot ohne hier einen Unterschied zu machen zwischen solchem aus Weizen oder Roggen bedeutet E i
w e i ß u n d F e t t b r o t. Getreide enthält je nach Art und Düngung 1016 0/0 Eiweiß, von dem wir bei feiner Mahlung des ungespitzten ganzen Korne drei Viertel bis vier Fünftel ausnützen. Allein der Keim enthält 36 % Eiweiß, und zwar hochwertiges, gegenüber den 89 % geringwertigem Eiweiß im Mehlkern selbst. Dazu kommt noch das hochwertige Eiweiß der Randschichten. Demgegenüber bedeutet Feinbrot eiweißarmes Brot, dessen Eiweiß zudem nicht vollwertig ist.
Der gleichfalls hoch ausnützbare Fettgehalt des Kornes beträgt rund 2 % bei Weizen und Roggen, bis zu 10 % bei Hafer. Das ergibt bei einem Hektarertrag von 20 Doppelzentnern Weizen oder Roggen 40 kg, bei Hafer gar 200 kg Fett. Zur Erzeugung der gleichen Menge, Eiweiß und Fett über die Viehzucht ist das Fünf bis Siebenfache an Bodenfliche erforderlicht
2. Vollkornbrot bedeutet V i t a m i n b r o t. Denn alle Vitamine des Korns befinden sich ausschließlich im Keim und in den Randschichten, sie fehlen völlig im Brot aus Feinmehl. Vollkornbrot enthält Vitamin A in geringer Menge, welches u. a. das menschliche Auge befähigt, im Halbdunkel und Dunkel zu sehen. Sein Fehlen bewirkt diemg. Nachtblindheit. VitaminAMangel ist besonders in den Spätwintermonaten zu befürchten, da zu dieser Zeit die Hauptträger des Vitamin A und seiner Vorstufen, nämlich die grünen Gemüse, fehlen und das Vitamin A der Milch und Butter nicht ausreicht. Ferner enthält das Vollkorn die Vitamine der BGruppe in reicher Menge, vorausgesetzt, daß der Ausmahlungsgrad 82 % nicht unterschreitet. Vollkorn liefert dreimal so viel Vitamin B 1 wie Fleisch, Spinat, Karotten usw., achtmal so viel wie Milch, Kartoffeln und Tomaten. Ein Mangel an Vitamin B 1, wie er im Feinbrot gegeben ist, verhindert die bestmögliche Ausnützung der Stärke als Kraftspender und kann zum Entstehen der jetzt besonders häufigen Nervenentzündungen mit Taubheit und Schmerzen in Armen oder Beinen beitragen. Selbst so schweren Erkrankungen des Nervensystems wie multipler Sklerose und spinaler Kinderlähmung dürfte nach neueren Ansichten ein Vitamin BMangel zumindest Vorschub leisten. Ferner finden wir im Vollkom das Fruchtbarkeitsvitamin E, das uns überhaupt nur durch den Getreidekeim geliefert wird. Es spielt für die Empfängnis und Stillfähigkeit der Frau die größte Rolle. Auch das antiskorbutische Vitamin C und das antirachitische Vitamin D bilden sich in etwa der gleichen Menge, wie im Eidotter enthalten, sobald das Korn bei Lichtzutritt angekeimt wird. Warum ist diese von BircherBenner entdeckte und seit 1935 von Bäckern und Hausfrauen geforderte, so einfache Vitaminanreicherung auch Fachleuten kaum bekannt? Aber selbst der Umstand, daß im nicht vorgekeimten Vollkom Vitamin C und D fehlen, nimmt ihm nichts von seinen sonstigen überragenden Nährwerten.
3. Vollkornbrot bedeutet V e r d a u u n g s b r o t. Denn die in den Randschichten des Korns enthaltene Zellulose (auch in mechanisch und biologisch aufgeschlossener Form) und die Pektine (Gelestoffe) regeln durch ihre unmittelbare Einwirkung auf die Darmschleimhaut die Verdauung. Ohne diese Stoffe entsteht Darmträgheit und Verstopfung mit all ihren verheerenden Folgen, wie wir sie während der Vorkriegszeit und auch jetzt schon wieder als Begleiterscheinung des überwiegenden Feinmehlverzehrs in steigender Häufigkeit beobachten können. Nur eine radikale Umstellung auf die ursprünglichen, natürlichen Ernährungsverhältnisse kann hier Wandel schaffen.
4. Vollkornbrot ist Z a h n s t ä r k u n g s b r o t. Dies zunächst auf Grund seines Gehaltes an Mineralstoffen, vor allem an Kalk, Mangan und Kieselsäure, welche zum Aufbau der Zahnsubstanz notwendig sind. Außerdem, weil das Vollkornbrot beim Kauen die Gebißfunktion kräftigt und dadurch Zahnentwicklung und Zahnerhaltung fördert. „Die beste Zahnbürste ist ein Stück Vollkornbrot’ sagt Prof. E u 1 e r früher Breslau, einer der besten Kenner der Zahnfragen.
5. Vollkornbrot ist G e s u n d – h e i t s – und L e b e n s b r o t. Denn nur die obengenannte, harmonische Verbindung, von Kalorien und Vitaminquellen gewährleistet allein den störungsfreien Ablauf aller Funktionen der Verdauung und des gesamten Stoffwechsels. Jede einseitige Beurteilung, etwa nur dem Kalorienwert nach, wird den Problemen nicht gerecht und muß zu Trugschlüssen führen. Vollkornbrot enthält fast alles, was zum Leben notwendig ist. Man kann jahrelang von Vollkornbrot und Milch allein leben, wie H i n d h e d e, R ö s e und andere Forscher an sich bewiesen haben, aber nur ganz kurze Zeit von Weißbrot allein.
Die Erfahrung einer Generation ernster Forscher lieferte uns unumstößliche Beweise für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Vorteile des Vollkornbrotes. Es muß einen Arzt und Helfer mit tiefer Besorgnis erfüllen, wenn in einer Zeit, da dieses und manches andere Ernährungsproblem seiner Lösung harrt, auch berufene Stellen sich diesen Tatsachen verschließen. Noch hindern uns Gewohnheit, Genußsucht und Kapitalismus an entscheidenden Schritten, um mit jahrzehntelangen Irrtümerm und Vorurteilen endgültig aufzuräumen. Deshalb trage jeder seinen Teil dazu bei, damit die „beste Frucht der Erde“ den Menschen wieder in bester Form zugute komme.
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