Was hat uns Bircher-Benner heute zu sagen?

ÄRZTLICHE ZEITSCHRIFT FUR GANZHEITSBEHANDLUNG, NATURHEILKUNDE, DIÄTETIK, NAHRUNGSKUNDE

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Dr.  Max Edwin Bircher-Benner

  
Sonderdruck aus: DIAITA 5/1966

(Referat, gehalten in Augsburg anläßlich eines Empfangs der Firma Keimdiät für die Teilnehmer der neuform-Generalversammlung 1966.)

 

K. Windstosser

Als Pythagoras vor 2 ½ Jahrtausenden seinen berühmten Lehrsatz entdeckte, opferte er dem Jupiter eine Hekatombe, das waren 100 schöne Rinder. Seitdem zittern bekanntlich alle Ochsen bei der Verkündung neuer Lehren um ihr Leben. Sie tun dies gewohnheitsmäßig auch dann, wenn die neuen Lehren den vier- und zweibeinigen Ochsen keineswegs lebensgefährlich, sondern im Gegenteil ausgesprochen lebensverlängernd sein könnten, wie dies etwa auf das uns heute interessierende Thema zutrifft. Man müßte sich als biologischer Arzt eigentlich schämen, immer wieder über die grundlegenden Erkenntnisse Bircher-Benners sprechen zu müssen. Aber nicht nur das Zittern, sondern der offene und versteckte Widerstand des Ochsen in uns und um uns, macht es erforderlich, daß wir uns von Zeit zu Zeit Rechenschaft geben über die Größe und Bedeutung einer Idee und Lehre, die nun schon über die Dauer eines Menschenlebens ihre segensreiche Wirkung für Gesunde und Kranke getan hat und die selbst nach einer Fülle wissenschaftlicher Fortschritte und wechselnder Moden, wie wir sie während eines halben Jahrhunderts erlebt haben, als durchaus aktuell und kaum verbesserungsbedürftig angesehen werden muß. Bircher-Benner war tatsächlich seiner Zeit um ein Jahrhundert voraus. Vieles von dem, was er uns an Erkenntnissen und praktischen Hinweisen hinterließ, beschäftigt den Lebensreformer, den Naturheiler und den aus Uberzeugung tätigen Reformhausfachmann noch heute tagtäglich. Es war auch einer der unseren, Herr Werner Altpeter, der sich gemeinsam mit Dr. Warning, Professor Zabel u. a. in der Reformrundschau unermüdlich bemüht hat, das Gedankengut Bircher-Benners in zahlreichen Veröffentlichungen zu verbreiten. Seiner und seiner Gattin Initiative ist es außerdem zu verdanken, daß vor Jahresfrist in Bad Homburg ein Bircher-Benner-Denkmal, das einzige in Deutschland, entstanden ist, wofür beiden auch an dieser Stelle die Anerkennung und der Dank unserer Gemeinschaft ausgesprochen sei. Von einer Lehre überzeugt zu sein, sollte aber gleichbedeutend sein mit ihrer Praktizierung. Nur wenn wir Ärzte, Heiler und Berater uns richtig ernähren, werden wir auch die Autorität haben, eines unseres Rates Bedürftigen, einen Kunden zur richtigen Diät zu bringen. Der Ausdruck Diät sollte eigentlich gar nicht gebraucht werden. Denn im Bircherschen Sinn hat Diät nichts zu tun mit dem, was in den Krankenhäusern und Kliniken so bezeichnet wird. Diät im herkömmlichen Sinn ist eine reine Schonkost, bei der einfach alle Bestandteile weggelassen werden, die dem Kranken nicht bekommen bzw. nach Ansicht des Arztes nicht bekommen. Sie ist meist eine breiförmige, eintönige, mangelhafte Kost, die den Magen vielleicht rasch passiert, dem kranken oder schwachen Organismus aber zahlreiche Faktoren vorenthält,die er zum Gesundwerden und Gesundbleiben eben nicht entbehren kann. Eine solche Diät mag vorübergehend und kurzfristig noch angebracht sein, wie etwa die Bettruhe oder die Krücke für den Gehunfähigen oder auch die völlige Nahrungsenthaltung im Fasten. Was wir unter Diät verstehen, ist eine besonders hochwertige, vitalstoffreiche Ernährung, die nicht nur vorübergehend, sondern mit größtem Gewinn auf die Dauer beibehalten werden sollte. Fügen wir die heutigen Erkenntnisse und Möglichkeiten einer solchen optimalen Kost in den Rahmen der zahlreichen übrigen naturgemäßen Lebensregeln und natürlichen Heil- und Vorbeugungsmaßnahmen ein, so werden wir alle Krankheiten in ihrem akuten Stadium rascher heilen können und es gleichzeitig vermeiden, daß diese in ihr chronisches Stadium eintreten und damit immer schwerer heilbar werden. Als das leider so häufig unheilbare Endstadium chronischer Vorstadien und Überreste früherer Krankheiten, jahrelanger Intoxikationen und unfühlbarer erbpathologischer Veranlagungen darf man nach unseren heutigen Erkenntnissen auch das Krebsleiden, dieses Brennendste aller Probleme des 20. Jahrhunderts, auffassen, dem ich mich durch meine Mitarbeit bei Dr. Issels an dessen Ringbergklinik nunmehr ausschließlich gewidmet habe. Wie ernst auch bei uns die Ernährungsfrage genommen wird, mögen Sie daraus ersehen, daß es uns gelungen ist, wenigstens monatsweise und periodisch die Ihnen allen bekannte Frau Lisa Mar als Diätberaterin für unsere Patienten und für unsere Küche zu gewinnen.

Angesichts der bedrohlichen Fülle und Vielzahl der uns heute umgebenden Gefahren und Schadensmöglichkeiten ist die Frage berechtigt: Wo gibt es denn überhaupt noch den voll gesunden Menschen? Welche Kriterien haben wir, um diese Vollgesundheit zu erkennen? Denn es ist doch so, daß jeder von uns, auch der scheinbar Gesündeste, plötzlich eine Krankheit bekommen kann, von der wir annehmen müssen, daß sie sich schon längere Zeit vorbereitet hat. Oder es können zwei äußerlich kerngesunde Eltern ein krankes oder verkräppeltes Kind haben. Offenbar sind alle unsere hochentwickelten klinischen Untersuchungsmethoden also noch zu grob, zu ungenau, um die vollkommene Gesundheit zu bestätigen bzw. ihre frühesten Schädigungen nachzuweisen. Alle Untersuchungsergebnisse über Gewicht, Blutdruck, Puls, Temperatur, physiologische, hämatologische und serologische Einzelheiten erscheinen demnach relativ und unzuverlässig. Trotzdem glaube ich, daß es Beweise gibt für die von uns allen angestrebte volle Gesundheit. Es ist die Funktion, die Leistung, das ganze leibliche und seelische Befinden, kurzum, all das, was bei der rein klinischen Untersuchung nicht in seiner Totalität erfaßt werden kann. Wir brauchen uns oder dem anderen nur einige Fragen zu stellen über jene Faktoren, die gewissermaßen den Menschen mit idealer Gesundheit charakterisieren. Ein solcher Idealmensch ist nie krank, auch wenn er sich in den gefährlichsten Bakterien wälzen oder solche in Massen zu sich nehmen sollte. Er ist gegen Wärme und Kälte weitgehend unempfindlich, hat nie kalte Hände und Füße und ist nie müde. Sein Leben und seine Arbeit ist eine Kette von Aktivität und Freude von früh bis spät. Er schläft abends sofort ein und erwacht nach 6-8 Stunden erfrischt und guter Laune. Er kann sich bei der Arbeit ebenso konzentrieren wie in der Freizeit entspannen und hat bis ins hohe Alter ein gutes Gedächtnis. Er ist hinsichtlich seiner Stimmung ausgeglichen und allen natürlichen Dingen gegenüber aufgeschlossen und dankbar. Im Augenblick der Gefahr ist er geistesgegenwärtig und in jeder Situation frei von Angst. Sein Appetit ist immer gleich gut, auch wenn er nur Wasser und Brot haben sollte. Aber auch längere Pausen im Essen und Trinken kann er ohne Schwäche und Ubelkeit ertragen. Seine Verdauung verläuft ohne jede Störung, sein Stuhlgang erfolgt - erschrecken Sie bitte nicht-täglich zwei- bis dreimal gut geformt mühelos und gleitend. Sein Stuhl hat keinen unangenehmen Geruch und im Darm bilden sich kaum Gase. Auch der Körpergeruch eines solchen Menschen ist ohne Verwendung von Kosmetika zwar spezifisch, aber nicht unangenehm. Die Symbiose mit den physiologischen Bakterien ist harmonisch, der Darm beherbergt ebensowenig wie die übrigen Schleimhäute keinerlei atypische oder gar schädliche Keime. Fängt ein solcher Mensch aber gelegentlich sogenannte Krankheitserreger, so erweisen auch diese sich als unschädlich, denn sie gehen in ihm ohne Auslösung besonderer Krankheitserscheinungen zugrunde und vermehren sich nicht weiter.

Sie meinen, ein solcher Mensch sei eine Utopie. Bircher-Benner war nicht so skeptisch. Er war davon überzeugt, daß wir uns in kürzerer Zeit, als wir uns von diesem Idealbild entwicklungsgeschichtlich und kulturell entfernt haben, ihm wieder nähern könnten. Der Aufwand an psychischer und physischer Kraft müßte allerdings proportional dem sein, der zur Erzielung unserer heutigen Degeneration erforderlich war. Gewiß, die Ernährung ist nicht allein schuld an diesen Schäden und Entartungen. Sie ist aber neben allen anderen Erfordernissen und Bedingungen ein sicherer Weg aufwärts ebensogut wie abwärts. Bircher-Benner gab der von ihm herausgegebenen Zeitschrift und seinem Verlag den Namen „Wendepunkt“. Er verlangt eine Wende von dem, der gesund werden möchte. Er stellt an ihn die Forderung der vollwertigen Ernährung. SIE dienen bei ihrer Beratung und bei ihrem Verkauf bewußt oder unbewußt dieser Forderung. Wir wollen uns deshalb heute in Erinnerung rufen, wie diese Birchersche Forderung im einzelnen lautet, wobei ich Sie allerdings bitten muß, mir auf etwas abstrakten und theoretischen Gedankengängen zu folgen, um deren möglichst einfache Formulierung ich mich an Hand der drei berühmten Vorträge Bircher-Benners bemüht habe, die uns aber gerade deshalb heute so berühren, weil sie in einer Zeit konzipiert sind, die wenig oder nichts wußte von Vitaminen und Vitalstoffen, von Atmungsfermenten und letzten Geheimnissen der Zelle, aber trotzdem alles beinhalten, was wir heute auf Grund unserer neuesten Erkenntnisse für die Ernährung des Gesunden und des Kranken fordern müssen.

Bircher-Benner nannte seine um die Jahrhundertwende gehaltenen Vorträge „Ordnungssätze des Lebens“. Einige weitere Hinweise finden wir außerdem in dem Büchlein „Vom Werden des neuen Arztes“.

Das Ordnungsgesetz der Nahrungsenergie besagt, daß das Wesen des Ernährungsvorganges in der Zufuhr von Ordnungen höheren Grades von Nahrungsenergie besteht. Mit solchen Ordnungswerten nährt sich das Leben in erster Linie, während die Zufuhr von stofflichen Nährfaktoren daneben ihre selbstverständliche, wenn auch sekundäre Bedeutung behält. Dies wurde Jahrzehnte nach Bircher-Benner durch einzelne Vertreter der modernen Physik bestätigt, etwa durch Pascual Jordan und die Nobelpreisträger Erwin Schrödinger und Max Planck mit dessen Quantentheorie. Weiterhin besagt das Ordnungsgesetz der Nahrungsenergie, daß lebensfrische Nahrung, insbesondere solche pflanzlicher Herkunft, die höchsten Ordnungen an Nahrungsenergie enthält und daß grundsätzlich jede physikalische oder chemische Behandlung einen „Ordnungsverlust“ herbeizuführen vermag, namentlich die Erhitzung. Hierin liegt, über alle stofflichen Nahrungsfaktoren hinaus, die Hauptbegründung für den lebensfördernden und heilenden Wert der Rohkost. Gerade bei der Krebstherapie spielt die Zufuhr der enzymatischen Höchstwerte in der Nahrung eine überragende Rolle, weil sie allein die Atmung der Zelle ermöglichen, ihr Fehlen jedoch die Atmung zur Gärung werden läßt, die Professor Warburg als primäre Ursache der krebsigen Entartung der Zelle erkannt hat.

Das Integralgesetz der Nahrung ist das Gesetz von der unversehrten, ungeschmälerten, heilen Nahrung, auch das Gesetz der Totalität genannt. Es besagt, daß der Mensch eines wohlabgewogenen, naturbedingten Gesamtverhältnisses aller Nährfaktoren bedarf, um zu gedeihen, einer Eukorrelation, wie sich Bircher-Benner ausdrückte, ohne Überschuß oder Minderung einzelner Faktoren und Faktorengruppen. Der Gesamtwert, die Totalität eines Lebensmittels kann daher grundsätzlich nur in einer ganzheitlichen Prüfung, nicht in einer analytischen Zergliederung festgestellt werden. Vitamin C-Mangel entsteht beispielsweise nicht erst dann, wenn der wissenschaftlich geltende Tagesbedarf unterschritten wird, sondern wenn die C-Zufuhr nicht mehr der Eukorrelation zu den übrigen Nährfaktoren entspricht. Das ist ein großer Unterschied. - Das Integralgesetz bedeutet ferner, daß wir uns in der Nahrungswahl möglichst an die von der Natur gebotenen Nahrungseinheiten, also an die unversehrten Naturprodukte, an die Vollwertnahrung zu halten haben. Die zerlegende, teilende, auflösende Forschung und Technik liefert keine Möglichkeit, die Ganzheit eines Lebensmittels künstlich wiederherzustellen, wenn sie einmal zerstört worden ist. Nachträglich „angereichertes“ Weißmehl oder Weißbrot z. B. kann weder theoretisch und noch viel weniger praktisch industriell den ursprünglichen eukorrelativen Qualitätsgrad der Vollkornnahrung erreichen. Wir sprechen von „Leerkalorien“, die auf die Dauer immer eine Belastung, meist eine Schädigung des Organismus bewirken.

Das Ökonomiegesetz der Ernährung besagt, daß dann der Nahrungsbedarf mit der relativ geringsten Menge ausreichend gedeckt ist und die Verdauungs- wie Assimilationsvorgänge dann am rationellsten, sichersten und unter geringster Belastung der beteiligten Organe vor sich gehen, wenn die Nahrung den beiden ersten Ordnungsgesetzen entspricht, dem Ordnungsgesetz der Nahrungsenergie und dem Integralgesetz. Der lebenserhaltende, gesundheitsfördernde Effekt der Nahrung ist in diesem Fall am größten und erlaubt höchste Leistung bei geringstem Widerstand und Verschleiß. Es entsteht dann auch kein Anreiz zu überschüssiger Zufuhr, die Stoffwechselabläufe werden geschont, Kraftreserven für plötzliche Anforderungen an Abwehr oder Leistung werden geschaffen und krankmachende Ablagerungen werden vermieden. Ich brauche in diesem Kreis nicht hervorzuheben, welches bedenkliche Ausmaß an Korpulenz das Wirtschaftwunder mit sich gebracht hat. Etwa 20% der bundesdeutschen Bevölkerung sind davon betroffen, das Krankengut der Ärzte und Kliniken weist bereits 35% Ubergewichtige auf. Es gibt keine Wunderkuren und keine Wunderdrogen dagegen, aus welchem Land sie auch angepriesen werden mögen. Bircher-Benner gab uns vor einem Menschenalter das Rezept: Die Nahrungszufuhr soll gerade nur den Bedarf decken. Was darüber hinaus gegessen wird, gereicht nicht zur Förderung der Leistungsfähigkeit und Gesundheit, und wenn der Schein noch so trügt, sondern vermindert sie. Die Folgen der Verstöße gegen das Ökonomiegesetz der Ernährung zeigen sich nicht sofort und nicht im einzelnen Fall. In ihrer Summation und Wiederholung aber wirken sie sich nach Jahren oder Jahrzenten unfehlbar verhängnisvoll aus, und die moderne Erbforschung hat sogar bewiesen, daß nicht einmal immer die erste Generation am schwersten betroffen ist, sondern daß auf dem Weg der Genschädigung Ernährungsfehler der Vorfahren die verschiedensten, teilweise sogar irreparablen Gesundheitsstörungen oder Mißbildungen späterer Generationen verursachen können.

Hindhede in Dänemark und McCay in USA kamen bei ihren Untersuchungen zu den gleichen Forderungen wie Bircher-Benner hinsichtlich der Nahrungsökonomie, doch sind auch deren Veröffentlichungen in Fachkreisen leider so gut wie unbekannt geblieben. McCay schrieb 1949 In der gesamten Ernährungslehre der offiziellen Medizin herrscht als unbestrittene These die Theorie, der Organismus müsse von der Wiege bis zum Grabe mit Uberschüssen an Nahrung versorgt werden. Wachstumsgeschwindigkeit und Gewichtszunahme sah man leichtfertig als Beweis für die Güte einer Ernährung an, während doch eine optimale Leistungsfähigkeit und maximale Lebensdauer als Kriterium zu gelten hätten. Die Untersuchungen der McCay-Gruppe an der Cornell-University in USA, die zwangsläufig zur Bestätigung des Ökonomiegesetzes führten, bewiesen in 20jährigen Tierversuchen, daß eine knappe Nahrungszufuhr unter Erfüllung der ersten 3 Ordnungsgesetze die Gesamtlebensleistung stark erhöht, unter Bremsung des Wachstums die Lebensdauer verlängert, Abnutzungskrankheiten vermeidet und dem altersbedingten Elastizitätsverlust entgegenwirkt. Sport- und Hochgebirgsversuche von Schmidt und Vogt ergaben als unmittelbare Auswirkung der Nahrungsökonomie wesentlich geringeren Kalorien- und Sauerstoffverbrauch bei gleicher Leistung, außerdem raschere Erholungsfähigkeit nach genau bemessenen körperlichen Anstrengungen.

Umgekehrt entsteht bei dauernder Mißachtung des Ökonomiegesetzes ein „Reizhunger“, der besonders dann zum Mehressen antreibt, wenn überschüssige Mengen hitzeveränderter Eiweißstoffe, Fette und Kohlenhydrate bei gleichzeitigem Vitalstoffmangel zugeführt werden. Der Organismus darbt dann bei scheinbarem Überfluß, wie wir das stets als Folge der sog. gutbürgerlichen Küdie beobachten können. Er gerät in die Lage eines Goldgräbers, der es mit einer goldarmen Gesteinsader zu tun hat. Er muß unverhältnismäßig viel Gestein verarbeiten, um ein Körnchen Gold zu gewinnen. Mit dem unwirtschaftlichen Vielessen kommt eine unheilvolle Belastung der Verdauungs- und Stoffwechselorgane zustande. Die Regulationsvorgänge werden überlastet und nehmen mit der Zeit Schaden. Trotz vermehrter Nahrungszufuhr besteht das Mißverhältnis weiter und treibt zu Ersatzversuchen wie Kochsalzmißbrauch, Kaffee-, Nikotin- und Alkoholabusus, Tablettensucht. In Verbindung mit den vielen sonstigen Belastungen unserer Zeit und Gesellschaft entsteht die sog. Streßsituation, die so vielen Menschen, bes. Männern, durch Herzinfarkt, Lungenkrebs oder andere gesundheitliche Katastrophen im besten Alter das Leben kostet.

Als Nutzanwendung des Ökonomiegesetzes ergibt sich für uns grundsätzlich, daß nicht einseitige Diätformen, wie bisher üblich zu verabfolgen sind, etwa bei Übergewicht Kalorienentzug, bei Magerkeit Mastkost, bei Nierenleiden Kochsalzentzug, sondern grundsätzlich für alle Arten von Krankheiten dieselbe Basisdiät, die dem Organismus höchste Vitalität, Kampfkraft und Regenerationsfähigkeit bei größter Ökonomie und Schonung verleiht. Eine solche Heilkost, dem Zustand der Organe selbstverständlich individuell angepaßt, führt am schnellsten und sichersten zum Ziel.

Wir kommen damit zum Ordnungsgesetz der Nahrungspforte. Dieses Gesetz besagt, daß der Mund als Pforte der Nahrungsaufnahme durch sein Gebiß, die Speicheldrüsen und den Gaumen eine doppelte Aufgabe für die Erhaltung der Gesundheit hat, und daß dieser Funktion eine Schlüsselstellung zukommt, weil sie dem Bewußtsein zugänglich ist, während die weiteren Einverleibungsstufen das nicht mehr sind. Der Mund lenkt die Nahrungswahl mit Hilfe des Gaumens und er bereitet außerdem die Aufnahme und Verdauung der Nahrung mit Hilfe des Kauaktes vor. Das Ordnungsgesetz der Nahrungspforte verlangt von uns die volle und sinngemäße Verwendung des Mundorgans. Der Geschmackssinn, durch Aufmerksamkeit und Verstand geschult, trifft unter den angebotenen Nahrungsmitteln seine Wahl. Die Abhängigkeit von Reiz- und Rauschmitteln, von Überwürzung und Übersüßung geht immer mehr zurück. Allmählich wendet sich der Gaumen mit wachsender Freude der naturnahen, frischen Vollwertnahrung zu und jenen Speisen, welche zum Kauen locken. Dadurch wird die Uberwindung des erwähnten „Reizhungers“ erleichtert. Der Organismus erfährt weitere Entlastung und erhält willkommene Anregung der Verdauungsvorgänge, wenn das Gebiß seine Aufgabe der gründlichen Zerkleinerung und Einspeichelung erfüllt. Das setzt freilich einigermaßen vollzählige Zahnreihen voraus. Schon einzelne fehlende Zähne beeinträchtigen den Kauakt mehr als man denkt. Außerdem zieht ein fehlender Zahn bekanntlich den Verlust von drei weiteren nach sich: Der beiden Nachbarn und des gegenüberliegenden Gegenbißzahnes. Man sollte also schon bei solchen leichten Defekten für Ersatz sorgen. Daß gleich ganze Zahnreihen fehlen, sollte bei gebildeten Menschen, bes. Lebensreformern, heute eigentlich nicht mehr vorkommen. Die Prothetik hat sich so entwickelt während der letzten Jahre, daß man heute von jedem einigermaßen erfahrenen Zahnarzt ein tadellos sitzendes Gebiß oder eine Teilprothese erwarten darf. Hier muß aber leider noch eine weitere Warnung eingeflochten werden. Das Ordnungsgesetz der Nahrungspforte beinhaltet auch, daß die Mundorgane gesund sind. Bircher-Benner war einer der ersten Ärzte, der seine Patienten einer rigorosen Zahn- und Mandelsanierung unterworfen hat. Ich habe es nicht bereut, daß ich diese Lehre in der Klinik in Zürich empfangen und seither mein ganzes Leben an meinen Patienten praktizieren durfte. Die Giftstoffe, die aus den Wurzelkanälen toter Zähne in den Organismus strömen, gehören zu den gefährlichsten, die es in der Natur überhaupt gibt. Das gilt auch für die Fälle, bei denen sich röntgenologisch kein Wurzelherd feststellen läßt. Die Warnung der modernen biologischen Medizin, Zähne keinesfalls aus reinen Bequemlichkeitsgründen - wie man das früher häufig tat - zu devitalisieren, und die Forderung, devitale (wurzeltote) Zähne unter allen Umständen zu extrahleren, ist leider noch nicht geistiges Eigentum aller Zahnärzte geworden. Man erlebt es, daß selbst die größten Eiterherde zahnärztlicherseits nicht erkannt werden und jahrelang im Mund verbleiben. All das kann man eigentlich nur als unentschuldbaren Kunstfehler bezeichnen. Denn der Mensch, der ja schon an den verschiedensten Krankheiten oder Vorkrankheiten leidet, wenn er zu Ihnen ins Reformhaus oder zum Arzt in die Sprechstunde kommt, kann auch bei bester Beratung oder Behandlung nicht gesund werden, solange er unter der Intoxikation mit Leichengift aus seinen verwesenden Wurzeln leidet. Und gerade bei der Tumorentstehung scheinen diese Gifte eine verhängnisvolle Rolle zu spielen, worauf ich hier nicht näher eingehen kann. Dr. Issels nimmt ebenso wie Bircher-Benner vor ihm hierin einen radikalen Standpunkt ein. Ohne totale Sanierung der Zähne und Mandeln nimmt er keinen Patienten in Behandlung. Und das nach meiner eigenen Erfahrung mit vollem Recht.

Uber die Nahrungspforte und den Kauakt kommen wir zum Ordnungsgesetz der Mahlzeitenzahl. Es besagt, daß die Verdauungs- und Stoffwechselarbeit sich dann am besten vollzieht, wenn grundsätzlich nur eine Haupt- und daneben nicht mehr als zwei kleine, frugale Nebenmahlzeiten eingenommen werden, so daß die beteiligten Organe dazwischen Ruhe haben. Nur dann ist auch das Wiedererwachen eines daniederliegenden Appetits zu beobachten. Das Aufkommen der verschiedenen Zwischenmahlzeiten, Jausen, Brotzeiten usw. steht im Zusammenhang mit dem des „Reizhungers“. Die Vorschrift „häufige kleine Mahlzeiten“ ist auch beim Kranken grundsätzlich falsch und nur in seltenen, besonders gelagerten Fällen am Platz, wie etwa dann, wenn der Magen durch Operation abnorm verkleinert ist und nicht einmal das Quantum einer Nebenmahlzeit aufzunehmen vermag. Eine ständig wiederholte oder gar ununterbrochene Beanspruchung der beiden großen vegetativen Nervensysteme, des sympathischen und des parasympathischen, bringt eine ständige Störung des naturbedingten Auf- und Abschwingens der Leistungs- und Erholungsphase mit sich, was zwangsläufig zur Schwächung und Erschöpfung des Vegetativums, also der eigentlichen Lebensnerven führen muß. In der Tat haben die Kulturvölker vergessen, daß der Normalzustand des Magens und der Eingeweide die Leere und nicht die Völle ist. Wird aber gewohnheitsmäßig in kürzeren Abständen als 4-5 Stunden immer wieder gegessen, so kommt diese erwünschte Leere nie zustande und der Mensch hat auch nie einen natürlichen, kräftigen Hunger. Von noch längeren Pausen, die dann fließend übergehen in das vorhin schon erwähnte Fasten, wollen wir hier nicht sprechen. Sie zählen ebenfalls zu den natürlichen Ernährungsgesetzen und sind für den Gesunden wie Kranken von größtem Nutzen.

Diese fünf Ordnungsgesetze, das Gesetz der Nahrungsenergie, der Totalität, der Ernährungsökonomie, der Nahrungspforte und der Mahlzeitenzahl betreffen die Funktionen der Nahrung im Menschen. Sie stehen in enger Beziehung zueinander und greifen teilweise ineinander. Nicht direkt so formuliert, aber sinngemäß im Gedankengut Bircher-Benners scheint ein weiteres sechstes Ordnungsgesetz vorzuliegen, das der Gewohnheit. Es würde bedeuten, daß die verhängnisvollen Folgen von Ernährungsfehlern durch gewohnheitsmäßige Summierung selbst geringfügiger Verstöße gegen die genannten Ordnungsgesetze viel häufiger entstehen als durch ausnahmsweise begangene grobe Verstöße. Aus dieser Regel ergibt sich eine wichtige Korrektur des herkömmlichen Mäßigkeitsbegriffes. Mäßig ist der ausnahmsweise Mißbrauch, z. B. im Alkoholgenuß, weil er selbst im extremen Fall vom Organismus leichter und ohne dauernden Nachteil überwunden wird. Unmäßig ist-im Gegensatz zur bisher geltenden Anschauung-der andauernde, gewohnheitsmäßige, tagtägliche Verstoß selbst geringen Ausmaßes, weil er zur langsamen, aber sicheren Entartung oder Erkrankung führt. In Abwandlung eines bekannten alkoholischen Werbeslogans könnte man also etwa sagen: Viel mehr gefährdet ist, wer mäßig, aber regelmäßig in sein Gläschen schaut, als jener, der zwar selten, aber kräftig auf die Pauke haut'.

Die Gültigkeit dieses Ordnungsgesetzes bezieht sich jedoch nur auf den Bereich des relativ gesunden Lebens, nicht auf die Zone der Ungesundheit, in welcher bereits Reizhunger oder Süchtigkeit entstanden ist. Dann nämlich kann auch der einzelne Verstoß jeden Schweregrades verhängnisvoll sein, weil er entweder das labile Gleichgewicht völlig zum Entgleisen bringt oder Anlaß zu weiterem gewohnheitsmäßigem Verstoß ist. In bezug auf den Alkohol hat der Genfer Kliniker Roch dies nachgewiesen. Das mag der Grund gewesen sein, weshalb Bircher-Benner von der ausdrücklichen Formulierung eines solchen Ordnungsgesetzes abgesehen hat, um nämlich nicht von denen mißverstanden zu werden, die allen Empfehlungen und Vorschriften immer nur die ihnen angenehmen Seiten abgewinnen möchten.

Das Ordnungsgesetz der Gewohnheit gilt aber selbstverständlich auch im positiven Sinn, indem nämlich der tägliche kleine Nutzen, den wir unserem Organismus erweisen, oder die tägliche kleine Entbehrung, mit dem wir ihm einen evtl. Schaden entziehen, entscheidend sind für unsere Gesundheit, nicht jedoch die gelegentliche, heroisch empfundene Geste wie etwa der eine fleischlose Tag in der Woche, das einmal gegessene Pfund Obst, der einmalige Spaziergang im Vierteljahr oder der einmalige, unter qualvoller Entbehrung ohne Zigaretten verbrachte Tag. Auch hier bringt nur die Summierung vieler kleiner Leistungen den Erfolg zuweg, wie nur aus vielen kleinen Steinchen ein Mosaik entsteht.

Ein weiteres, achtes Ordnungsgesetz würde von Bircher-Benner jedoch heute unbedingt formuliert werden angesichts der Vergiftungswelle, der wir uns seit einigen Jahrzehnten

in zunehmendem Maß aus der Luft, aus dem Wasser, aus dem Boden und aus vielen Nahrungs- und Lebensmitteln ausgesetzt sehen, nämlich das Ordnungsgesetz der Reinheit. Es war zu Birchers Zeiten noch kaum nötig, diesbezügliche Warnungen auszusprechen. Um so alarmierender sollte die Tatsache sein, daß sich diese Gefahren innerhalb weniger Jahrzehnte zu so eminenter Bedeutung entwickelt haben. Ich glaube, gerade in diesem Kreis kein Wort über die von allen Seiten bedrohte Reinheit unserer Nahrung verlieren zu müssen. Das Forschungsgebiet und das Wissen um diese Zusammenhänge ist jetzt schon fast unübersehbar geworden. Komplizierend steht uns dabei nicht nur die Fülle neuer, unbekannter Schädigungen im Wege, sondern vor allem das merkantile Interesse der herstellenden Industrie, erkannte oder vermutete Zusammenhänge unter Aufwand erheblicher Geldmittel zu dementieren oder diesbezügliche Forschungen zu verunmöglichen. Von Freiheit der Wissenschaft ist in dem Augenblick keine Rede mehr, in dem irgendwelche wirtschaftlichen Monopole oder geistigen Doktrinen bedroht sind. Ich brauche Sie hier nur an den Kampf um die Reinhaltung der Luft, um den Schutz vor weiteren atomaren Schädigungen, um die Spritzmittelverseuchung der Kulturpflanzen, um die Abwasser und Detergentienvergiftung des Grundwassers, um die Konservierungsmittel- und Farbstoffzusätze unserer täglichen Nahrung und an den Kampf gegen die akustischen Belastungen, gegen den krankmachenden Lärm, zu erinnern, alles Kämpfe, die so lange erfolglos bleiben müssen, als auf der Gegenseite Millionen auf dem Spiel stehen und der Staat als Hehler mitprofitiert, sich also nicht eindeutig auf die Seite der Geschädigten stellen kann.

Noch ein weiteres Ordnungsgesetz der Ernährung würde heute von Bircher-Benner formuliert werden, das wir ebenfalls an verschiedenen Stellen seiner Bücher hinsichtlich der Herkunft per Nahrung angedeutet finden. Dieses Ordnungsgesetz des Bodens, wie man es nennen könnte, würde besagen, daß unsere Nahrung aus einem lebendigen, gesunden Boden, aus echtem Humus mit vollwertigem Bodenleben, aus gesunden, widerstandsfähigen Kulturpflanzen, aber auch aus vollgesunden Tieren stammen muß. Auch hierin mangelte es zu Birchers Zeiten teils an der Notwendigkeit einer Reform, teilweise aber auch an

wissenschaftlichen Beweisen, die uns heute von den verschiedensten Forschungsrichtungen, schulmäßigen und außenseiterischen, geliefert werden. Ich darf in diesem Zusammenhang nur an die Namen Francé, Sir Howard, Carson u. a. erinnern, ferner an die anthroposophischen Untersuchungen mit biologisch-dynamischen Düngeverfahren außerdem an die hochinteressanten mikrobiologischen Arbeiten von Dr. Rusch, Kolb und Santo, die exakt nachweisen, daß das Leben nur durch lebendige Substanz erhalten werden kann. Wird diese Kette des Lebendigen, der lebendigen Umwandlung in der Humusbildung und im Wasserhaushalt der Natur unterbrochen, so verliert der Boden seine lebenserhaltende Kraft. Er wird krank, wie auch die in ihm wachsenden Pflanzen und die auf ihm weidenden Tiere krank werden, schließlich aber auch der von ihm lebende Mensch.

Zum Ordnungsgesetz des Bodens gehören auch die Kenntnisse um die physikalischen Kräfte der Erde, um die sog. geopathischen Strahlungen und Reize, denen jedes Lebewesen ausgesetzt ist, und dem diese Kräfte verhängnisvoll werden können, wenn der Mensch als Beherrscher der Erde nicht weiß, wie er ihnen auszuweichen oder welchen nutzbringenden Gebrauch er von diesen Kräften zu machen hat.

Ich habe versucht, Ihnen an Hand der Bircherschen Gedankengänge und Erkenntnisse, der von ihm formulierten 5 Ordnungsgesetze und 3 weiterer aus seiner Lehre entwickelten Gesetze einen Uberblick zu geben über das große Gebiet, das uns als Lebensreformern auf dem Weg zu einer neuen, besseren Zukunft immer gegenwärtig sein sollte, wenn wir uns nicht in irgendwelchen sektiererhaften, einseitigen Sackgassen verirren wollen. Sie stehen in Ihrem Reformhaus an einer Stelle, die es Ihnen erlaubt, viele Menschen anzusprechen und Ihnen diese Gedankengänge zu vermitteln, dem einen mehr, dem anderen weniger. Werden Sie nicht müde, sich diese vielfältigen Aspekte immer wieder zu vergegenwärtigen.

 

Anschrift des Verfassers: Dr. med. K. Windstosser 8183 Rottach-Egern Ringbergstraße 30

 

 

 


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